von IRRbert
Kapitel 1: Geburt im Mist – Der erste Atemzug
Ich wurde nicht in Samt gewickelt oder unter dem Beifall der Menge empfangen – nein, mein erster Blick auf diese Welt war durch eine dünne Schicht Kuhdung und verrottete Rüben. Der Haufen dampfte in der Morgensonne, als wolle er mich ausbrüten wie ein göttliches Schicksal, das endlich in Insektenform Fleisch annimmt. Und ich sage dir: Es war herrlich.
Ich kroch aus meinem Ei wie ein Champion, glitschig, blind, aber voller Tatendrang. Noch bevor ich wusste, was ein Flügel ist, wusste ich: Ich will hoch hinaus. Vielleicht lag es am Duft – der eine Ode an vergangene Mahlzeiten war – oder an der Wärme, die selbst das klamme Herz einer Fliegenmade durchdringt. Doch in meinem winzigen Brustkorb brodelte bereits ein Wunsch: „Ich will meinen eigenen Krümel finden. Meinen Schatz. Mein Vermächtnis.“
1.1 Der Haufen – Ursprung aller Dinge
Statistisch gesehen befinden sich in einem mittelgroßen Misthaufen bis zu 20.000 Insekteneier pro Kilogramm. Ich war eins davon. Manche sagen, das sei Zufall – ich nenne es Schicksal. Während andere Maden sich in die Tiefe wühlten, blieb ich an der Oberfläche, sog die ersten Sonnenstrahlen auf und lauschte dem Wind, der Geschichten von Fliegenkriegen, Spinnenfallen und dem großen Gelben Klatscher erzählte.
1.2 Die erste Begegnung – „Kacki, der Weise“
In jenen ersten Minuten begegnete ich einer alten Made, halb verwest, halb erleuchtet. Sie nannte sich selbst Kacki der Weise und sprach mit der Ruhe eines verdauten Pflaumenkerns.
Er lag auf einem halb eingetrockneten Stück Schafdung, das von Madenfraß und dem rauen Lauf der Zeit gezeichnet war – schräg geneigt wie ein verrotteter Thron. Sein einziger verbliebener Fühler zuckte unregelmäßig, das Ende grotesk verdickt, wo der andere einst gewesen war. Er strömte einen süßlich-fauligen Geruch aus, eine Mischung aus altem Kot und dem Hauch von Verwesung, die einem die Nackenhaare aufstellte. Eine dicke, weißliche Made kroch träge aus einer klaffenden Wunde an seiner Seite. Ich war jung, feucht und von seinem Anblick tief verstört – und doch spürte ich, dass ich vor jemandem stand, dessen Verwesung eine unheilige Geschichte erzählte.
„Wenn du lebst, um zu fressen, wirst du vergehen. Wenn du frisst, um zu leben – wirst du fliegen.“
Ich verstand kein Wort. Aber ich nickte. Und das war der Beginn meiner Philosophie: Immer so tun, als ob man’s kapiert.
Seine Haut war pergamentartig, sein linker Fühler fehlte, und er roch… weise. Nicht streng, wie frischer Durchfall, sondern reif – wie lange gegorene Erkenntnis. Ich war jung, feucht, ahnungslos – und doch fühlte ich, dass ich vor jemandem stand, der Dinge gesehen hatte, die keine Fliege je glauben würde.
„Du willst fliegen, Kleiner?“, krächzte er, während ein kleines Stückchen Karottenschale aus seinem Maul fiel. Ich nickte eifrig, stand stramm auf meinen sechs Beinchen.
„Dann hör gut zu: Die Welt da draußen ist voller Licht – und voller Tod. Es gibt Klatscher, Klebestreifen und das Grauen der UV-Falle. Aber schlimmer als all das ist: das sinnlose Schweben.“
Ich runzelte meine noch weiche Stirn.
„Was meinst du, Meister?“
Er senkte seine Stimme, als wolle er dem Haufen keine Angst machen:
„Viele summen, keiner fragt warum. Doch du – du musst deinen Krümel finden. Deinen eigenen. Nicht irgendeinen. Einen, den du spürst, bevor du ihn siehst.“
Ich verstand wieder nur die Hälfte, aber es klang bedeutungsvoll. Er fuhr fort:
„Drei Dinge musst du lernen:
- Nur frischer Kot ist verlässlich.
- Nicht alles Braune ist heilig – manch Kuchen ist eine Falle.
- Wenn du fliegst, flieg nie geradlinig. Der Tod liebt gerade Linien.“
Dann schwieg er. Eine Fruchtfliege kreiste um seinen Kopf, er beachtete sie nicht. Ein Moment der Größe.
Ich wollte noch mehr wissen – wie man Menschen überlistet, wie man erkennt, ob ein Haufen von Hund oder Mensch stammt. Aber er drehte sich nur langsam zur Seite, rülpste leise und sagte:
„Du wirst es selbst riechen, mein Sohn.“
Ich verließ ihn ehrfürchtig, mit Fragen im Kopf und einem Traum im Herzen: Meinen Krümel zu finden, weise zu werden – und vielleicht eines Tages selbst so zu riechen.
1.3 Eine Welt voller Gefahren
Ich war kaum fünf Minuten alt, als ein halber Regenwurm auf mich fiel. Ein glitschiger, rosafarbener Albtraum, der aus dem dampfenden Berg rutschte und mich fast unter sich begraben hätte. Instinktiv, mit einer Geschwindigkeit, die selbst eine ausgewachsene Stubenfliege neidisch gemacht hätte (wenn sie denn zugeschaut hätte), wich ich aus. Ich stolperte, rollte und landete in einem Knäuel aus altem, feuchtem Zeitungspapier. Es roch nach abgestandenem Kaffee und menschlicher Aufregung – eine seltsame Mischung, die ich erst später in meinem Leben zu deuten lernte.
Meine winzigen, noch unscharfen Augen fixierten etwas auf der zerknitterten Oberfläche. Große, verblasste Buchstaben, die sich vom grauen Hintergrund abhoben. Ich konnte sie nicht lesen, nicht im menschlichen Sinne. Aber ich fühlte sie. Sie schienen zu vibrieren, eine dunkle Energie auszustrahlen, die perfekt zu meinem chaotischen Start passte. Und da war dieses eine Wort, größer als die anderen, fettgedruckt und unheilvoll: „SKANDAL“.
SKANDAL.
In meinem winzigen Fliegenhirn verband sich dieses Wort sofort mit meiner eigenen, dramatischen Ankunft. War es nicht ein Skandal, so unzeremoniell in einem Misthaufen geboren zu werden, fast zerquetscht von einem Regenwurm? War es nicht ein Skandal, dass die Welt so voller Gefahren war, kaum dass man den ersten Atemzug getan hatte? Dieses Wort auf dem Papier schien meine eigene, winzige Existenz widerzuspiegeln – eine Existenz, die von Anfang an außergewöhnlich, vielleicht sogar schockierend war.
1.4 Das erste Ziel: Tageslicht
Der Weg nach oben war ein Kampf. Mit vereinten Beinen, die noch wackelig waren von der Geburt und dem Schock des Regenwurms, kämpfte ich mich durch die Schichten des Haufens. Jeder Zentimeter war eine Anstrengung. Ich schob mich vorbei an rutschigen Resten von altem Gemüse, umging scharfkantige Eierschalen und stieß auf ein verdächtig hartes, klebriges Hindernis – ein Karamellbonbon, das hier nichts zu suchen hatte, aber wie eine unüberwindbare Festung wirkte. Der Geruch wurde intensiver, aber auch der Hauch von etwas Neuem, Frischerem. Ich spürte einen leichten Zug, einen Temperaturunterschied. Draußen. Das Wort formte sich in meinem winzigen Gehirn, ein Versprechen, ein Ziel. Ich drückte und zog, meine winzigen Muskeln schmerzten, aber der Wunsch, dem Dunkel zu entkommen, war stärker. Und dann, endlich, spürte ich weniger Widerstand. Die Materie wurde lockerer, die Luft kühler. Mit einem letzten, verzweifelten Schub brach ich durch.
Und als ich endlich durchbrach, blendete mich das Licht wie die Glorie eines neuen Lebens. Es war nicht nur hell; es war warm, es vibrierte, es roch nach Freiheit und unendlichen Möglichkeiten – und ja, auch nach weiter entfernten, verlockenden Düften. Der Wind strich über meinen noch feuchten Körper, eine Sensation, die ich nie zuvor gekannt hatte. Ich war nicht mehr nur eine Made im Dunkeln. Ich war Flax. Ich war geboren. Und ich war bereit, diesen Skandal von einem Leben zu beginnen.
Kapitel 2: Erste Flügelschläge – Freiheit und Fliegenlernen
2.1 Der beschwerliche Weg zum Fliegen
Noch war ich am Boden, ein winziges, klebriges Etwas mit dem Potenzial zum Flug. Meine Flügel, anfangs nur feuchte, zusammengefaltete Häutchen, mussten sich entfalten und trocknen. Das war ein Geduldsspiel, das sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Ich pumpte Luft in die feinen Äderchen, spürte, wie sie sich strafften, wie sie Form annahmen. Jeder Flügelschlagversuch war unbeholfen, ein Zucken, ein Zittern, das mich kaum vom Untergrund löste. Es war frustrierend, aber der Anblick der anderen Fliegen, die mühelos durch die Luft tanzten, trieb mich an.
2.2 Körperliche Koordination und Instinkt
Das Fliegen ist keine reine Willenssache; es ist ein komplexes Zusammenspiel von Muskeln, Nerven und reinem Instinkt. Mein winziges Gehirn musste lernen, die Signale meiner Augen und Fühler zu verarbeiten, die Bewegungen meiner sechs Beine zu koordinieren und gleichzeitig die feinen Schwingungen der Flügel zu steuern. Es war, als würde ich eine völlig neue Sprache lernen, eine Sprache aus Aerodynamik und Balance. Mein Instinkt, tief in meiner DNA verankert, war mein bester Lehrer. Er sagte mir, wie ich meine Flügel neigen musste, um zu steigen, wie ich sie schlagen musste, um vorwärtszukommen.
2.3 Die erste Flucht vor dem Windstoß
Gerade als ich dachte, ich hätte den Dreh raus, kam die erste echte Herausforderung: ein plötzlicher Windstoß. Er riss an mir, drohte, mich zurück in den Haufen zu schleudern. Panik stieg in mir auf, aber der Instinkt übernahm. Ich kämpfte gegen den Wind an, schlug meine Flügel schneller, passte meine Flugbahn an. Es war kein eleganter Flug, eher ein wildes Taumeln, aber ich schaffte es, mich in der Luft zu halten, dem Wind zu trotzen. Diese erste Flucht war eine Lektion in Überleben und ein Beweis dafür, dass ich mehr war als nur ein winziges Insekt.

2.4 Euphorie über die neue Perspektive auf die Welt
Und dann passierte es. Ein Flügelschlag, der richtig saß. Ein zweiter, ein dritter. Plötzlich war ich in der Luft! Unter mir lag der Haufen, mein Geburtsort, jetzt nur noch ein brauner Fleck. Die Welt öffnete sich vor mir. Ich sah die grünen Grashalme, die wie riesige Bäume aussahen, die glitzernden Tautropfen, die wie Diamanten funkelten. Die Gerüche der Welt, vorher nur gedämpft wahrnehmbar, strömten nun in voller Pracht auf mich ein. Es war eine Euphorie, die alles übertraf, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war frei. Ich konnte fliegen. Die Suche nach meinem Krümel konnte beginnen – jetzt wirklich.
Fliegen. Ich war nicht mehr nur ein Suchender; ich war ein Besitzer, ein Verteidiger meines Reviers.
–IRR–